Anna Jermolaewa
Opening: 30. May 2008, 8pm
July - August 2008

Text zur Ausstellung
Anna Jermolaewa Im Fluss des Lebens

Für diese Ausstellung in der Galerie Widauer wählte die Künstlerin neue Werke der letzten zwei Jahre aus. Ihr Konzept basiert auf einer genauen Beobachtung der Wirklichkeit und einer Transformation einzelner brisanter Aspekte in künstlerisch relevante Themen. In ihrem Werk, das unter anderem Installationen, Videos und Fotos umfasst, wird oft ein Gegenstand, eine Szenerie des alltäglichen Lebens oder eine Momentaufnahme zur Reflexion über existentielle Befindlichkeiten und Bedingungen. Das Bild wird zum Icon, es fordert den Betrachter auf eindringliche, intensive Weise dazu auf, über wesentliche Aspekte im Leben nachzudenken. Dabei spielen besonders kategoriale Bestimmungen wie Zeit, Raum aber auch geschichtlich kulturelle Bezüge eine entscheidende Rolle. So erscheint dem Betrachter der Videoskulptur Der Weg nach oben (2008) das Gewirr der Ratten im Glaskäfig eines Tiermarktes in Mexico City und ihr ständiges, vergebliches Streben nach oben als verstörender, metaphorischer Blick auf das Verhalten des Menschen und seiner oft animalisch anmutenden struggle for life oder survival of the fittest. Die lieblos aufgeklebte Notiz Exportacion wird zum metaphorischen Menetekel. In der durch die Masse der Tiere und die hektische Bewegung auf dem Video beklemmenden Konfrontation erkennt er eigene Verhaltensmuster. Mit eben solcher Präzision thematisiert Jermolaewa das Gefühl von Sieg und Überlegenheit in der Skulptur Triumph (2008), wenn sie Pokale unterschiedlichster Größe auf einem Spiegelquadrat platziert. Alles ist eitel, in doppeltem Sinn. Die feine Ironie der Arbeit wird auch in den Inschriften der Pokale sichtbar, wenn es da etwa heißt, „Zur Erinnerung an das Neujahrsschießen 2003 von der Dienstagsabt. der SG Bad Harzburg.“

Ein weiteres zentrales Werk dieser Ausstellung ist ein work in progress, hier als 3-teilige Videoinstallation präsentiert mit dem Titel Fünfjahresplan. Dieser pragmatische und schlichte  Titel steht in Kontrast zur existentiellen Relevanz des Videos. Auf drei Bildschirmen ist immer der gleiche Ausschnitt mit der Rolltreppe einer U-Bahn Station in St. Petersburg zu sehen.

Die Bilder entstanden jeweils im Abstand von fünf Jahren, also 1996, 2001 und 2006. Es ist Winter, die Leute tragen warme Pelzmützen, fahren zur Arbeit oder gehen ihres Weges. Doch es sind unwiederbringliche Momentaufnahmen, jeder Augenblick ist einzigartig. Die Bewegung der Rolltreppe betont den Aspekt des Transitorischen, alles ist vergänglich und doch wiederholt sich das immer Gleiche. Es sind nicht dieselben Menschen. Der Fluss des Lebens wird in dieser scheinbar so alltäglichen, kleinen Szene auf verstörend einfache Weise erfassbar. Dazu kommen Aspekte wie Individualität und Masse, der Einzelne und die Gemeinschaft. Jermolaewa sieht dieses Projekt als Lebenswerk und so wird auch sie selbst Teil dieses Zeitstückes. Im hinteren Teil der Galerie ist eine Videoprojektion zu sehen, Auf die Seite (2006-2008), in der die Künstlerin die Müllwagen auf einem Wiener Flohmarkt beim Beseitigen der Müllberge filmte. Der Standpunkt des Betrachters, die tiefe Position der Kamera sind entscheidend für die veränderte Perspektive. Gegenstände erscheinen plötzlich riesig, wie etwa ein Plüschhase, Möbelstücke haschen vorbei, eine Hand greift nach einem Gegenstand, um ihn vor der Zerstörung zu retten, Füße eilen hin und her, alles ist in Bewegung. Die Straße wird zum Mikrokosmos. Scheinbar unbedeutende Dinge werden wichtig, Maßstäbe verschieben sich, die Wirklichkeit gerät, in realem und übertragenem Sinn, aus den Fugen.

In ihrem Werk analysiert Anna Jermolaewa auf klare und präzise Weise Momente des Alltäglichen, nur durch die Faktizität der Darstellung. Das Foto ist ebenso Dokumentation der Wirklichkeit wie die Videos. So wie auf den Fotos die Schafe mit ihren Markierungen auf Sylt oder die mit Plastikfolien überzogenen Theatersessel in Mexico City wird in der nüchtern dokumentarischen Darstellung des Realen die Hintergründigkeit und existentielle Relevanz des Alltäglichen sichtbar.

Gaby Gappmayr, 2008